30. Nov. 2023 08:32APDOstfildern
Doppelrezension: Geert Mak: Große Erwartungen – Auf den Spuren des europäischen Traums / Alex Rühle: Europa, wo bist du? Unterwegs in einem aufgewühlten Kontinent
Zwei Reisen, ein Ziel: Europa. Gleich zwei brillant geschriebene Bücher beschäftigen sich mit dem europäischen Traum und wollen ihn ausfindig machen. Während der eine Autor noch mit großen Erwartungen loszuziehen scheint, klingt der andere schon skeptischer: Europa, wo bist du? Geert Mak startet in den Niederlanden und reist quer durch Europa, von Nord nach Süd, von Ost nach West. Alex Rühle startet in München und zieht in drei Monaten durch die Lande. Beide spüren dabei den kleinen Geschichten nach, die Europa ausmachen. Das Ergebnis ist ähnlich: Es scheinen eher die Krisen zu sein, die Europa einen als die Idee selbst. Europa scheint ein Traum zu bleiben, der sich schwer greifen oder finden lässt. Erfreulich sei dies nicht, jedoch höchst interessant (Mak, S. 14).
Zu den Büchern
Auf jeweils über 400 bzw. 600 Seiten wird die jüngste Geschichte der EU beleuchtet. Vorwort und Nachwort sowie der Dank an viele Mitwirkende befreundete Journalisten und Archivare belegen die intensive Recherche. Die Kapitel sind länderspezifisch und stellen einzelne Bewohner in ihrem Alltagsleben vor. Poltische Meinungen, persönliche Ansagen, Biographisches und aktuelle Herausforderungen mischen sich meisterhaft und kolorieren den Kontinent. Gerade die realen und mitunter auch hässlichen Bruchlinien einer ambitionierten Idee werden konkret aufgezeigt. Maks Buch ist die Fortsetzung seines Bestsellers In Europa (2005). Nach der Aufbruchsstimmung kommt nun die Ernüchterung. Der Lack ist ab, der Glanz vergangen. Glorie sucht man weiterhin vergeblich. Rühle ist noch näher an der rauen Gegenwart und nimmt in seinem Buch unter anderem auf Mak Bezug.
Mak reist durch die Zeit von 2000 bis 2020 und erzählt dabei Geschichte(n). Dabei greift er gekonnt auf die jüngere Zeitgeschichte einzelner Nationalstaaten zurück und führt sie in die Gegenwart. Von der großen Hoffnung auf Erneuerung und einer starken Aufbruchsstimmung Ende des letzten Jahrtausends bleibt dabei nicht mehr viel übrig. Der Europabarometer zeugt von dieser Entwicklung. So glaubte noch 1999 eine überwältigende Mehrheit der Bürger, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden. Heute ist es genau umgekehrt. Europa zerfällt. Der Kontinent schwebe nach Henry Kissinger im luftleeren Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die tiefgreifenden Veränderungen hinterlassen psychische Spuren: Selbstbezogenheit, Identitätsverlust, Notalgie und Zukunftsangst.
Rühle reist von der Peripherie weit draußen ins Zentrum der EU: Brüssel und Straßburg. Dort zitiert es angesichts der seltsam deplatziert wirkenden EU-Architektur den Präsidenten der Europäischen Kommission (1985-1995) Jacques Delors mit dem Vergleich der EU als „Unidentified Political Object“. Trotz aller Geschäftigkeit und Umtriebigkeit sei es weiterhin schwierig, ein gemeinsames Narrativ zu finden. Fest steht, die nationalen Eigeninteressen und Streitigkeiten scheinen eine gemeinsame europäische Interessenfindung zu erschweren. Unübersichtlichkeit und Intransparenz gehören zum Tagesgeschäft. Und trotzdem haben 56 Prozent der Deutschen im Juni 2022 ein positives Bild der EU, 35 Prozent haben gemischte Gefühle und nur 7 Prozent sind negativ eingestellt (Rühle S. 224). Ganz tot ist der Traum also noch nicht.
Zwischen beiden Büchern liegen zwei Jahre Weltgeschichte. Mak äußert eine bange Ahnung angesichts der ungewissen Zukunft (S. 567) und nutzt das Wort „Schicksal“ im Angesicht der gerade heranziehenden Coronaepidemie, die zu einem nie dagewesenen Stillstand führte. Rühle ist schon eine Krise und einen Krieg weiter. Er resümiert „eine Rückverkapselung ins jeweils Eigene“ (S. 402) und die mangelnde Bereitschaft einzelner Nationalstaaten, sich an die allgemeinen Spielregeln zu halten. Trotz Kritik betonen beide Journalisten die Alternativlosigkeit des EU-Projekts. Auch angesichts der vielen Schwächen der EU wie Lobbyismus, nicht aufgearbeitete Kolonialgeschichte oder aufsteigendem Nationalismus liege in einer Kleinstaaterei jedenfalls auch keine Lösung. Einig sind sich beide Autoren bedauerlicherweise in „einem Mangel an vorstellbarer Zukunft“ (Rühle, S. 404; Mak, S. 616).
Zum Punkt
Reiselektüre entsteht in Etappen. So lesen sich auch die Bücher. Die Bühne wechselt in jedem Kapitel, die Darsteller auch. Die Darstellung bleibt so auch großteils in der Naheinstellung. Die Autoren springen von Pointe zu Pointe. Dadurch entsteht etwas Mosaikhaftes. Wer „EU-Lektionen, eindeutige Antworten oder Großthesen“ (Rühle, S. 400) erwartet, wird enttäuscht werden. Darum geht es in den Erzählungen auch nicht, die durch ihre Widersprüchlichkeit und teilweise Absurdität tatsächlich aufwühlen. Hier finden sich Reflexionen, Brüche, Verwerfungen ebenso wie große Träume, Pläne und Ideen. Europa bleibt das größte politische Projekt des 21. Jahrhunderts und scheint immer noch unvollendet.
Beide Autoren sind große Erzähler, deren Quasi-Chronik-in-Kleinformat fesselt. Unwillkürlich hält man beim Lesen den Atem an und fragt sich, ob es noch gut ausgeht. Die Krisen reihen sich aneinander und haben bemerkenswerte Ähnlichkeit. Obwohl sich bei der Lektüre eine leicht dystopische Stimmung nicht vermeiden lässt, bleibt der Ton leicht, fast plauderhaft. Dies schafft eine gewitterhafte Atmosphäre, der Horizont wird düstergelb und von Ferne donnert es. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt und wer weiß, vielleicht dreht der Wind im letzten Augenblick und macht den Himmel wieder hell und klar? Das nächste Jahrzehnt wird es zeigen. Hoffen wir, dass die Titel der nächsten Jahre über unseren Kontinent nicht lauten: Große Enttäuschungen oder Europa, wie konnte das geschehen?
Claudia Mohr
Die Rezension kann unter diesem Shortlink als Dokument heruntergeladen werden: https://t.ly/DqTeo
Zu den Büchern
Auf jeweils über 400 bzw. 600 Seiten wird die jüngste Geschichte der EU beleuchtet. Vorwort und Nachwort sowie der Dank an viele Mitwirkende befreundete Journalisten und Archivare belegen die intensive Recherche. Die Kapitel sind länderspezifisch und stellen einzelne Bewohner in ihrem Alltagsleben vor. Poltische Meinungen, persönliche Ansagen, Biographisches und aktuelle Herausforderungen mischen sich meisterhaft und kolorieren den Kontinent. Gerade die realen und mitunter auch hässlichen Bruchlinien einer ambitionierten Idee werden konkret aufgezeigt. Maks Buch ist die Fortsetzung seines Bestsellers In Europa (2005). Nach der Aufbruchsstimmung kommt nun die Ernüchterung. Der Lack ist ab, der Glanz vergangen. Glorie sucht man weiterhin vergeblich. Rühle ist noch näher an der rauen Gegenwart und nimmt in seinem Buch unter anderem auf Mak Bezug.
Mak reist durch die Zeit von 2000 bis 2020 und erzählt dabei Geschichte(n). Dabei greift er gekonnt auf die jüngere Zeitgeschichte einzelner Nationalstaaten zurück und führt sie in die Gegenwart. Von der großen Hoffnung auf Erneuerung und einer starken Aufbruchsstimmung Ende des letzten Jahrtausends bleibt dabei nicht mehr viel übrig. Der Europabarometer zeugt von dieser Entwicklung. So glaubte noch 1999 eine überwältigende Mehrheit der Bürger, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden. Heute ist es genau umgekehrt. Europa zerfällt. Der Kontinent schwebe nach Henry Kissinger im luftleeren Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die tiefgreifenden Veränderungen hinterlassen psychische Spuren: Selbstbezogenheit, Identitätsverlust, Notalgie und Zukunftsangst.
Rühle reist von der Peripherie weit draußen ins Zentrum der EU: Brüssel und Straßburg. Dort zitiert es angesichts der seltsam deplatziert wirkenden EU-Architektur den Präsidenten der Europäischen Kommission (1985-1995) Jacques Delors mit dem Vergleich der EU als „Unidentified Political Object“. Trotz aller Geschäftigkeit und Umtriebigkeit sei es weiterhin schwierig, ein gemeinsames Narrativ zu finden. Fest steht, die nationalen Eigeninteressen und Streitigkeiten scheinen eine gemeinsame europäische Interessenfindung zu erschweren. Unübersichtlichkeit und Intransparenz gehören zum Tagesgeschäft. Und trotzdem haben 56 Prozent der Deutschen im Juni 2022 ein positives Bild der EU, 35 Prozent haben gemischte Gefühle und nur 7 Prozent sind negativ eingestellt (Rühle S. 224). Ganz tot ist der Traum also noch nicht.
Zwischen beiden Büchern liegen zwei Jahre Weltgeschichte. Mak äußert eine bange Ahnung angesichts der ungewissen Zukunft (S. 567) und nutzt das Wort „Schicksal“ im Angesicht der gerade heranziehenden Coronaepidemie, die zu einem nie dagewesenen Stillstand führte. Rühle ist schon eine Krise und einen Krieg weiter. Er resümiert „eine Rückverkapselung ins jeweils Eigene“ (S. 402) und die mangelnde Bereitschaft einzelner Nationalstaaten, sich an die allgemeinen Spielregeln zu halten. Trotz Kritik betonen beide Journalisten die Alternativlosigkeit des EU-Projekts. Auch angesichts der vielen Schwächen der EU wie Lobbyismus, nicht aufgearbeitete Kolonialgeschichte oder aufsteigendem Nationalismus liege in einer Kleinstaaterei jedenfalls auch keine Lösung. Einig sind sich beide Autoren bedauerlicherweise in „einem Mangel an vorstellbarer Zukunft“ (Rühle, S. 404; Mak, S. 616).
Zum Punkt
Reiselektüre entsteht in Etappen. So lesen sich auch die Bücher. Die Bühne wechselt in jedem Kapitel, die Darsteller auch. Die Darstellung bleibt so auch großteils in der Naheinstellung. Die Autoren springen von Pointe zu Pointe. Dadurch entsteht etwas Mosaikhaftes. Wer „EU-Lektionen, eindeutige Antworten oder Großthesen“ (Rühle, S. 400) erwartet, wird enttäuscht werden. Darum geht es in den Erzählungen auch nicht, die durch ihre Widersprüchlichkeit und teilweise Absurdität tatsächlich aufwühlen. Hier finden sich Reflexionen, Brüche, Verwerfungen ebenso wie große Träume, Pläne und Ideen. Europa bleibt das größte politische Projekt des 21. Jahrhunderts und scheint immer noch unvollendet.
Beide Autoren sind große Erzähler, deren Quasi-Chronik-in-Kleinformat fesselt. Unwillkürlich hält man beim Lesen den Atem an und fragt sich, ob es noch gut ausgeht. Die Krisen reihen sich aneinander und haben bemerkenswerte Ähnlichkeit. Obwohl sich bei der Lektüre eine leicht dystopische Stimmung nicht vermeiden lässt, bleibt der Ton leicht, fast plauderhaft. Dies schafft eine gewitterhafte Atmosphäre, der Horizont wird düstergelb und von Ferne donnert es. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt und wer weiß, vielleicht dreht der Wind im letzten Augenblick und macht den Himmel wieder hell und klar? Das nächste Jahrzehnt wird es zeigen. Hoffen wir, dass die Titel der nächsten Jahre über unseren Kontinent nicht lauten: Große Enttäuschungen oder Europa, wie konnte das geschehen?
Claudia Mohr
Die Rezension kann unter diesem Shortlink als Dokument heruntergeladen werden: https://t.ly/DqTeo